Haus der Kamener Stadtgeschichte, Kamen

Living Meurent 3, 2019, mixed media auf Bütten, 22,5x33cm
Living Meurent 1, 2019, mixed media auf Bütten, 22,5x33cm
Vivendo Meurent, 1 (Victorine), 2019, 50x100cm, mixed media, kaschiert, Acryl
Vivendo Meurent, 2 (Olympia), 2019, 50x100cm, mixed media, kaschiert, Acryl
Il divertimento fo(u)r some, 2019, Hommage à Edouard Manet, Das Frühstück im Grünen,1863 mixed media, 30x52x142cm
(Ausstellungsansichten, die Werke jeweils von links nach rechts)

Fünf Werke in sehr unterschiedlichen Techniken ergänzen sich zu einem kontrastreichen Bild voller Unsicherheiten und Brüchen.
Zwei kleine graphische Blätter spielen mit dem brüchigen , verletzlichen Abbild alter Spitze und dem verheißungsvollen Schimmer schöner Schmuckteile.


Ein großes querformatiges Diptychon präsentiert eine schmerzvolle Gegenüberstellung: unbunt – bunt, ein Auge im Profil –  ein Auge en face, eine mehrbödige, brüchige, fast vernarbte Oberfläche  mit Spitzen-Einlässen – ein dunkel geheimnisvoller Grund mit plastischer Schleife/Blüte in verführerischen Rottönen, dazu die Frauennamen Victorine und Olympia, die beide aus den Tiefen der Bilder hervor treten.
Ein kissenhaftes, weich kubischen Objekt ruht auf einem Sockel-Gefährt, halb Boot, halb Einrad. Ein angedachtes Fortbewegungsmittel, verunsichernd, vage, uneindeutig in seiner Funktion. Die Farbe ein aggressives, billiges Pink. Derselbe Farbton auch auf der reliefhaften Seite des Kubus in Form eines sitzenden Aktes. Die drei anderen Flächen des Objektes jeweils bemalt mit einem Detail der drei weiteren Figuren auf Manets „Frühstück im Grünen“. Die vier Seiten bilden jeweils eine Person des Manet Bildes ab, genauso wenig wie diese miteinander kommunizieren, eine situative Gemeinschaft bilden, genauso wenig haben die vier Kubusflächen miteinander zu tun – jede schaut in eine andere Richtung.
Manet malt nicht eine fröhliche Frühstückssituation dieser vier Menschen im öffentlichen Park. Die Abgebildeten und ihr Tun scheinen austauschbar, bewusst komponiert ist die Nacktheit des Modells Victorine Meurent inmitten der bürgerlich gekleideten Herren, und der herausfordernde Blick, den sie aus dem Bild sendet. Manet will provozieren, aufmerksam machen auf gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen, auch auf die veränderte Situationen in der Kunst und damit auf sich selbst und seine neue Rolle als Künstler, der die Welt beobachtet und seine persönliche Stellung bezieht. Die Fotografie ist erfunden, die Industrialisierung hat begonnen, der akademische Malstil ist überkommen, der Impressionismus hat den ersten Schritt in die Moderne getan. Auch Manets Malstil ist provokant: eine schnelle offene Pinselführung, Atelierlicht trotz vorgegaukelter Natur, unglaubwürdige Proportionen, eine fehlende Zuordnung zur entsprechenden Gattung – sein Bild ist Portrait, Landschaft, Stillleben, Mythologie in einem, und das auf unangemessen großer Leinwand!
In ähnlich dramatischer Situation befindet sich Manets Modell Victorine Meurent. Sie war in ihren jungen Jahren eine bildschöne, begehrenswerte Kokotte in Paris, Manet bildet sie in ihrer verführerischen Nacktheit wiedererkennbar ab. Ein direkter, selbstbewusster Blick trifft die vorbeiziehenden Betrachter. Sie scheint diese Lebensphase voller Anerkennung und Begehren zu genießen. Aber in den vielen Jahren bis zu ihrem Tod mit 83 schwanden Schönheit, Ruhm und regelmäßige Einkünfte, zwar malte sie selbst, stellte auch offiziell aus, aber ihr Ruhm heute gründet sich allein auf ihre Zeit als Modell von Manet und die Bilder von ihr, die in diesen wenigen Jahren entstanden. Sie starb nach einem Leben voller Gegensätze arm und vergessen.

 

a)    … Manets Blick auf die Gesellschaft seiner Zeit, auf doppelbödige Moral, auf Umbrüche, auf Verwerfungen, auf Tendenzen, auf Fragen der eigenen Positionierung – diese Thematik bildet den Hintergrund für
„Il divertimento fo(u)r some”, 2019, 30x52x142cm, mixed media, kaschiert, Acryl

Manet lebt in einer Zeit der Veränderung, dem frz. Kaiserreich Napoleon III.: die Revolution hatte das männliche Bürgertum mit neuen Rechten an die Oberfläche der Gesellschaft gespült, aber im Ringen um eine demokratische Gesellschaftsordnung, wie wir sie heute kennen, kommt es auch in Frankreich immer wieder zu Rückschritten, Unsicherheiten, dem Tasten nach neuen Formen in der gesellschaftlichen Ordnung.
Manet reflektiert dieses neue Bürgertum, zu dem er selbst gehört, er nimmt die neue Sicht auf Oben und Unten wahr und die damit verbundenen Veränderungen im gesellschaftlichen Miteinander. Er entwickelt Gespür für neue Nahtstellen, Provokationen, brüchig gewordene Formen und neue Tendenzen.
Aber als Maler ist er angewiesen auf gesellschaftliche Akzeptanz, das hieß in Frankreich: auf die Aufnahme in den offiziellen Herbstsalon. Ausdrücklich will er nicht bei den abgelehnten Impressionisten mitarbeiten, die ihre eigene Ausstellung arrangierten. Seine Suche bahnt sich ihren Weg im Thematischen, Provokativen und in der Malweise, die eher expressiv suchend ist, ohne Traditionen zu leugnen. Er thematisiert Menschen in diesem gesellschaftlichen Prozess, suchend, tastend nach neuen Strukturen, nach der eigenen Position. Verloren gegangen ist der Lebenssinn, die Mitte, um die das individuelle Schicksal kreisen könnte – in dieser Suche stößt Manet die Tür auf zur Moderne.
So gibt er im Frühstück vier Menschen, als Portraits ihm bekannter Personen angelegt: sein Modell Victorine Meurent, nackt in der Runde bekleideter Männer, Eugene Manet und Ferdinand Leenhoff und die leicht bekleidete Alexandrine Melay. Alle befinden sich in einem öffentlichen Park, d.h. einem Landschaftsbild. Dazu gesellt Manet ein Stillleben, einen Gimpel und einen Frosch. Alle Details werden gegeben im uneinheitlichen Licht des Ateliers, selbst die Proportionen muten falsch an. Provokation auf ganzer Linie! Die Menschen blicken ins Leere, es gibt kein gemeinsames Thema, es gibt kein Ziel, die Komposition ist geborgt, der Malstil uneinheitlich, gekonnt schnell, aber nicht zugeschnitten auf Angepasstsein und Akzeptanz, und das alles auf tradierter Größe, in einem Format, das bis zu Goya vorbehalten war für mythologische Darstellungen oder Historienbilder!
Meine Titelgebung nimmt Bezug auf eine von Manets frühen Bezeichnungen „Flotter Vierer“, anzüglich, provokativ, genauso wie der gemalte Inhalt (ein „Foursome“ ist die englische Bezeichnung für „Vierer“, in meiner Schreibweise „Fo(u)rsome“ auch mehrdeutig).
Die vier Personen befinden sich auf den vier Seiten eines Objekts, sie blicken unabhängig voneinander in vier verschiedene Richtungen, nur der Malgrund, das Pfuhl-hafte Objekt ist ihr gemeinsamer Boden in der Welt. Victorine Meurent ist in ihrer Nacktheit der Aufmacher, sie ist die Speerspitze der gesellschaftlichen Provokation, haptisch greifbar und farblich in monochromem Rosé tritt sie hervor.
Das Objekt ruht auf vagem halb-Sockel-halb-Gefährt, einem unsicheren, schwankenden Grund - ein Versuch, die neuen Gedanken zu den Entwicklungen in der Gesellschaft zu präsentieren. Hier gibt es nur Fragen, Unsicherheiten, offene Problemlagen. Und genau in dieser Betrachtungsweise steht Manets Werk am Anfang unserer eigenen Situation, auch wir sind Sinnsuchende auf schwankendem Grund.

b)    „Vivendo Meurent, 1(Victorine) und 2(Olympia)“, 2019, jeweils 50x100cm, beide mixed media, kaschiert, Acryl
Victorine Meurent, der strahlende Akt in Manets Werk, war gefeierte Kokotte, schön, jung und begehrt in der Pariser Szene, lange Jahre Manets Muse und Modell. In vielen Bildern der 60er und 70er Jahre taucht sie erkennbar auf seinen Bildern auf, dadurch erlangte sie Weltruhm bis heute. Gleichzeitig entwickelt sie sich selbst zur Malerin, hauptsächlich als Porträtistin, ist dreimal im Pariser Herbstsalon vertreten, aber die meisten ihrer Werke sind verloren gegangen. Ihr Name taucht in der Kunstgeschichte ausschließlich im Zusammenhang „Modell von“ auf, in ihrem privaten Leben zieht sie im Alter bettelnd durch Paris, sie stirbt hochbetagt vergessen, arm und unbekannt.
Mein Blick richtet sich auf das gegensätzliche Erscheinungsbild einer Frau: einerseits steht sie im Mittelpunkt gesellschaftlicher Vorgänge aufgrund ihrer Attribute in jungen Jahren, sie ist berühmt, wird gefeiert und bewundert. Andrerseits und im Gegensatz dazu fällt der Blick auf eine alternde Frau ohne eigene berufliche Anerkennung, die arm, anonym und einsam ihr Leben fristet, sie stirbt mit 83 in einem Vorort von Paris.
Das strahlende Leben ist z.B. das der Olympia, wie Manet sie 1863 malt. Kess und offensiv, in der nackten Pose einer Renaissance Venus, schaut sie en face den Betrachter selbstbewusst und herausfordernd an. In ihrer jugendlichen Schönheit ist sie stark, fühlt sich den Anfeindungen der Gesellschaft gewachsen. Sie weiß sich getragen von öffentlichem „Scheinwerferlicht“. Im Haar flattert verführerisch weiblich eine rote Schleife.
Das graue, zurückgezogene Leben ist das der Victorine. Nur wenige Fakten schimmern durch. Musisch begabt, versucht sie sich als Malerin. Ihr gelingen einzelne Erfolge, aber es fehlt an gesellschaftlicher Unterstützung, vielleicht auch an Ausdauer und Begabung. Ein Foto zeigt sie im Profil, den Blick ins Leere gerichtet, züchtig gekleidet im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nach den strahlenden Jahren als junges Modell verlieren sich ihre Wege, nur einzelne Blicke auf ein von Armut und Sorgen geprägtes Leben tauchen auf.
Beide Pole sind nur schwer in einem einzigen Leben vorstellbar. Meurents Gedanken sind nirgendwo festgehalten, es gibt nur wenige dokumentarische Details. Geblieben sind der Nachwelt die starken Momente ihres jungen Seins auf den Bildern Manets.

 

Frau Dr. Bärbel Jäger bei der Einführung in Haus Martfeld:

"Germaine Richter fokussiert in fünf Werken das Schicksal Meurents stellvertretend für die gesellschaftliche Situation, auf die Manet anspielt. Beim Raumobjekt „Il divertimento fo(u)rsome“, doppeldeutig bezeichnet (foursome = engl. f. Flotter Vierer), separiert sie Motive der hist. Vorlage, neutralisiert sie gewissermaßen mit der Aufforderung an uns Betrachtende, die eigene Position bezüglich gesellschaftlicher Umbrüche, Verwerfungen, Entwicklungen  (G.R.)zu hinterfragen. Im Diptychon geht es explizit um Victorine und Olympia. Richter verweist zwar auf kunsthistorische Bezüge (Bsp. rotes Haarband), löst sich kompositorisch jedoch gänzlich, um in mattem Kolorit das Zusammentreffen der <<demi-monde>> (franz. Halbwelt) mit gutbürgerlicher Gesellschaft und das weibliche Scheitern zu beschreiben, wie wir es auch aus dem Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas kennen."

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© Germaine Richter