Schon der Titel der Ausstellung lässt mich stolpern: das Zitat aus einer Rede des Amerikaners Patrick Henry, der sich im 18. Jh. der Unabhängigkeitsbewegung angeschlossen hatte, lautete „Gebt mir Freiheit oder den Tod!“. Roni Horn ersetzt „Freiheit“ durch „Paradox“ und fordert ihr Gegenüber auf, ihr dieses zu geben oder den Tod. Welche Gedanken stecken hinter dieser Verrätselung, hinter dieser Widersprüchlichkeit? Die Ausstellung bietet mit etwa 100 Werken Spuren zu erfahrbaren Erkenntnissen.
Ein großartiger Empfang direkt am Eingang zur Ausstellung mit „This is Me, This is You“, 96 Portraitfotografien von Roni Horns Teenager-Nichte Georgia Loy Horn, die ihrer Tante, so findet man auf anderen Fotos heraus, ziemlich ähnlich sieht. Jeweils die Hälfte der Bilder steht sich in regelmäßigem Raster gegenüber. Zu jeder Aufnahme der einen Seite gibt es ein Gegenstück auf der anderen Seite, das nur wenige Sekunden später fotografiert wurde. Wie viele unterschiedliche Gesichter ein und desselben jungen Menschen! Und auf den ersten Blick genau dieselben auf der zweiten Wand, aber – da geht das Stolpern weiter – die Dopplung ist keine Dopplung, sondern unterscheidet sich in großen und kleinen Abweichungen. Innerhalb von drei Jahren sind diese Bilder entstanden, und man entdeckt einen unendlichen Facettenreichtum an Ausdruck, Stimmung, Verkleidung, Gemütszustand – eines einzigen Menschen.
Genau hier ahnt man die Bedeutung des Ausstellungstitels: ganz gleich, wie unterschiedlich eine Erscheinungsform ist, sie trägt bei zum freien, individuellen, lebendigen Sein ohne jede Festlegung.
In schier grenzenloser Offenheit, einfach nur zu sein, das ist Horns Thema auch in den Fotos ihres eigenen Lebens in der Serie „a.k.a.“. In diesem Werk stehen jeweils zwei Portraitaufnahmen aus unterschiedlichen Lebensphasen der Künstlerin nebeneinander. Dabei fällt es oft schwer, die Bilder derselben Person zuzuordnen. Nicht nur das Alter, das Aussehen, die Erscheinungsform, der Ort – nein, alles scheint sich ändern zu können. Diese Freiheit, diese Wandelbarkeit ist für Roni Horn eine Bedingung von essentiellem Wert, sowohl aus der Perspektive des Individuums als auch aus der Sicht des Betrachtenden.
Viele Zeichnungen, Collagen, Tagebucheintragungen, ja sogar objekthafte Gebilde erwachsen aus dieser Position.
So tritt auch wie in einer inneren Logik das Wasser und seine fluide Erscheinungsform und Oberflächenanmutung in ihr Werk, z.B. in Form der 15teiligen Fotoserie „Still Water“, Aufnahmen der Themse in London. Anmerkungen aus Literatur, Popsongs, Medien bieten ein vielfältiges gedankliches Bild zu den Ansichten. Horns Zitat „Die Undurchsichtigkeit der Welt löst sich im Wasser auf“ lässt ahnen, wie ausdehnbar ihre Position ist: nichts scheint so, wie es sich darstellt, es gibt immer noch Anderes, Zusätzliches, Erweitertes…
Dieser Gedanke flutet die Wahrnehmung im Raum mit den beiden Werken „Untitled („The tiniest piece of mirror is always the whole mirror.“)“ und „Portrait of an Image (with Isabelle Huppert)“. Zehn runde, farbige, halbtransparente Glasskulpturen spiegeln in ihrer wässrigen Oberfläche sämtliche Raumaspekte je nach Blickrichtung, auch die 100 Portraitfotos von Isabelle Huppert, die weit oben den Raum frieshaft umgrenzen. Für diese Fotos hat sich die Schauspielerin einiger Filmrollen erinnert und wechselt entsprechend von einem Gesichtsausdruck in den nächsten. Was in dieser Installation ist verlässliche Wirklichkeit? So real greifbar die wunderbaren Glaskörper vor uns stehen, so ablesbar die Fotos einer bekannten Schauspielerin eine Emotion darstellen, alles, was wir wahrnehmen, ist eine Facette von Oberfläche, jeweils verbunden mit uns und unserem Standort. Das Dahinter, nach dem unser Verstand sucht, weil wir uns nach Festigkeit und Zuordnung sehnen, verweigert sich. Diese Einsicht verunsichert, kann aber auch Impuls sein, uns und unsere Welt offener, vorurteilsfreier zu betrachten.