54 Hours Performances. Free interdisciplinary performance Lab, Museum Folkwang, Essen, 30. Juni – 9. Juli 2023)

 

 

Marina Abramovic ist in der Performance Kunst eine überragend erfahrene Pionierin. Ihre Werke sind Erkundungen der eigenen Möglichkeiten, geprägt von Ausdauer, der Suche nach den eigenen Grenzen, dabei voller Empathie, Mut und Leidensfähigkeit.

Diese Position bekräftigt sie in einem Zoom-Interview aus New York: mit jeder Faser ihres Seins lebt sie ihr Werk. Und so versteht sie sich auch als Lehrende auf der Pina-Bausch-Professur an der Folkwang, Essen, voller Überzeugungskraft und Einsatz hat sie sich ein Jahr lang der Weitergabe ihrer Kunst gewidmet, 23 ausgewählte Studierende hatten die Möglichkeit, mit ihr an ihren eigenen Zielen zu arbeiten. Für die Ergebnisse hat das Folkwang Museum großzügig Raum geschaffen.

Das abrupte Eintauchen in die intime schutzlose Gedankenwelt anderer Menschen ist während der ersten Schritte befremdlich. Geräusche, Töne von Aktionen, die nur hörbar und noch nicht sichtbar sind, beflügeln die eigene Fantasie. Durchwandern, Sich-einlassen, Staunen, Hinterfragen, Mitmachen und Fühlen, überraschend, welche Themen und persönlich empfundenen Problemlagen, die nach Ausdruck verlangen, hier aneinander gereiht mich erreichen. Stunden durchwandere ich so ganz persönliche Anliegen, einiges berührt, anderes erreicht nur meine Oberfläche.

Bleibend Francesco Marzano mit seiner Performance „Tabula rasa“. Auf einem Podest, ganz zurückgenommen in der Ecke sitzt er auf einem Stuhl, neben sich auf dem Boden ein kleiner Stapel abgegriffener unterschiedlicher Buchformate, seine gesammelten Tagebücher. Sein Tun in den kommenden zehn Tagen: in ruhigem, fast traumverlorenen Ton liest er in seiner melodischen Muttersprache Italienisch Seite für Seite aus seiner Vergangenheit, reißt die betreffende Buchseite aus dem Heft heraus, zerknüllt sie und wirft sie auf den Boden. Dort sammelt sich, wovon er sich befreien möchte. Stumm wandert auf einem fußnahen Bildschirm die deutsche Übersetzung als stille Bekräftigung vorbei. All das ereignet sich ohne Hast, ohne innere Regung, ohne Anzeichen von Kraft. Nur in mir spüre ich eine leichte Wehmut, Schmerz, Melancholie. Herausreißen als Neuanfang?

Dennoch als Performance ganz wunderbar bewegend, ein Impuls zur Reflektion.

Und für alle Teilnehmenden ein Schritt in ihr Leben.

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© Germaine Richter