Was sehe ich? Schale, blass vergilbte plakatgroße Papiere mit hellen vagen Linien und Bilder, alle Blätter in lockerer Verteilung über die ganze Wand verteilt. Das Sehen wird deutlicher, klarer, je näher man an die Wand herantritt. Es schälen sich Drucke von kunsthistorischen Vorlagen heraus, man erinnert sich an Bekanntes, Bilder aus dem Kunstkontext, alle mit Darstellungen öffentlich erniedrigter Menschen, Menschen, die eine im gesellschaftlichen Konsens gerechte und damit gerechtfertigte Strafe empfangen, Folter, Kreuzigung, Pranger. Auf einigen sind Zuschauer sichtbar, die dem Schauspiel beiwohnen, mit Wonne, mit Grausen.
Alle Drucke sind mit weißer fluoreszierender Farbe auf nur schwach kontrastierendem Karton gedruckt. Mit diesen Mitteln erschließen sich die Inhalte nur allmählich, nur ganz verzögert wird der BetrachterIn klar, was sie sieht und dass sie einem öffentlichen Spektakel, dem einer Bestrafung, einer Schamstrafe, so nennt Andrea Büttner diese, beiwohnt. Viele dieser Situationen kommen uns unangemessen vor, mittelalterlich grausam, nicht im Einklang mit unserer heutigen Moralvorstellung, und es wird klar: Strafen stehen im Zusammenhang zu einem Bezugssystem. Die Zurschaustellung dieser unangemessenen, grausamen Vorgänge kann man leichtfertig verurteilen, als Folge haben wir Mitleid mit den Verurteilten, Vorgeführten und öffentlich Gedemütigten.
Die Ausübung wohl empfundener Gerechtigkeit ist das Thema in all diesen Bildern. Genau an diesem Punkt des Erkennens wird einem bewusst, dass auch wir hinschauen, uns genau betrachten, wie sich Täter und Opfer in dieser entwürdigenden Situation verhalten. Unangenehm, schambehaftet auch unser Voyeurismus. Das Sich-schämen der Bestraften greift über auf uns Zuschauer.
Wäre es nur dieser Zusammenhang kunstgeschichtlicher Darstellung und heutiger Betrachtungsweise, könnte man das Schampaket noch gut „verpacken“ und distanziert betrachten. Aber unsere sozialen Netzwerke präsentieren uns Tag für Tag ganz bewusst Texte und Bilder, die nur ein Motiv kennen: das Verunglimpfen und damit das Erniedrigen anderer Menschen. Weil alltäglich, lassen wir das geschehen. Aus den Schambestrafungen eines Systems sind heute willkürliche Einzeltaten – oft anonym - gegenüber privaten Feindbildern geworden. Das „Shaming“ in den sozialen Netzwerken breitet sich pestartig aus. Der einzelne soll sich schämen vor der Gemeinschaft! Wie verhält es sich mit dem Schamgefühl des Verursachers und dem des Publikums?
Andrea Büttner arbeitet an den Schnittstellen von Psychologie, Soziologie, Geschichte, kulturellen Traditionen, wie diese sich in der Kunst- und Kulturgeschichte niedergeschlagen haben. Aus theoretischen Erkenntnissen entstehen sehr vielseitige Werkgruppen, Themen sind z. B. „Arbeit“, „Armut“, „Handwerk“, „Religion“. Im Betrachtenden erwachsen daraus unzählige Impulse, unser Sein im sozialen Verbund zu reflektieren.